Wir haben Nachwuchs!

12.01.09 00:25

Zwar sind es keine Zwillinge - wie von Anke gewünscht – aber dafür ist das kleine Mädchen wohlauf …

chica1aHätte mir das Jemand vor einem Jahr prophezeit, hätte ich schallend gelacht und ihn für verrückt erklärt, weil sowas aber mal auf gar keinen Fall eintreten würde. Nein, alles nur keinen zweiten Hund in unserem Wohnmobil! Ich hab‘ morgens eh schon keinen Platz bei dem Gewusel, hätte ich wohl gesagt. Und überhaupt, was würde es helfen, auf einem Kontinent voller wilder und bedauernswerter Kreaturen in den Straßen…

Aber dann hat es wieder einmal unvermittelt zugeschlagen: das Schicksal, bei dem die Wege des Lebens wohl auf eine wundersame Weise vorbestimmt scheinen.

Gerade sind wir auf dem Weg zum Perito Moreno Gletscher, wollen noch kurz die Vorräte im lokalen Supermarkt ergänzen, da humpelt eine junge Hündin mit traurigem Blick vor unser Auto. Zunächst haben wir Sie natürlich auf einen der vielen patagonischen Stachelpflanzen im Fuß untersucht. Aber schnell erkannten wir an der großen und entzündeten Fleischwunde am rechten Kniegelenk, dass hier Handeln angesagt ist.

Also leuchteten bei uns die „Emergency-Sofort-Handeln-Zeichen“ in den Augen auf, wurden der Einkauf und die Weiterreise kurzerhand vertagt und ab ging es in unserem vollausgestatteten „Sanitätswagen“ zum nächsten Tierarzt. Der diagnostizierte einen alten, offenen, unbehandelten und schlecht verwachsenen Knochenbruch. Ohne Behandlung wäre die Hündin innerhalb der nächsten Wochen jämmerlich gestorben, da die Entzündung auf die Knochen übergegriffen und der zusätzlich einsetzende Wundbrand für den Rest gesorgt hätte.

Meistens bemerkt man ja gar nicht, dass und wie man sich verändert. Erst im Rückblick sieht man meist Dinge, die „früher“ anders waren. Das ist bei uns auch nicht anders. Wir sind nun über acht Monate unterwegs und klar, wir haben uns „eingelebt“, raufen uns nur noch selten die Haare gegenseitig aus. Aber haben wir uns wirklich so verändert, sind wir etwa sowas wie ein gutes Team geworden, wie wir es uns erhofften? Ich hätte es so nicht wirklich sagen können, aber dann saßen wir da beim Tierarzt und uns war beiden unabhängig und ohne Diskussion klar, wir kümmern uns um die kleine Hündin. Zumindest bis es ihr besser geht…

chica4Und dann kam die erste Nacht. Wir rechneten bei einem etwa einjährigen, unerzogenen Straßenhund mit einer schlaflosen Nacht, mit einem vollgepinkelten Fußboden und womöglich einem, unter dem Fahrersitz versteckten Hundehaufen. Nichts dergleichen geschah! Die kleine Hundedame betrat den SCAM, den sie von der Fahrt zum Tierarzt schon kannte, als ob er schon immer ihr Zuhause gewesen wäre, blieb aber höchst respektvoll und wohlerzogen im Fahrerraum. Dort schlief sie die Nacht durch, bettelte nie, egal ob wir oder Paco gerade beim Essen waren. Und als ich kurz beim Einkaufen war, hat Anke für sie unabhängig von mir den Namen „Chica“ (Mädchen) erdacht. Allerdings habe ich mir diesen an der Kasse wartend auch ausgedacht … . Ein Zeichen, oder besser alles zusammen: viele Zeichen!

Eigentlich sollte Chica, nachdem die Wunde verheilt wäre, bei einer privaten Initiative auf eine Vermittlung warten. Die Initiative wird hier von ein paar ehrenamtlich tätigen Frauen am Leben gehalten, die viele der Straßenhunde in einem Hundezwinger der Stadt versorgen. Eigentlich ja keine schlechte Option. Aber nach dieser ersten Nacht war uns beiden klar, dass Chica zu unserer Familie gehören wird, einfach weil sie wohl immer schon da gewesen zu sein schien. Und so kam es, dass wir am 5. Januar 2008 um 18:34 Uhr einen einjährigen Nachwuchs mit strammen 15 Kilo bekamen.

Da wir mit Paco ohnehin immer die Rennerei mit den Grenzdokumenten haben, macht es bei zwei Hunden effektiv auch keinen Unterschied mehr. Und die notwendigen Formalitäten für einen Rücktransport nach Deutschland lassen sich auch innerhalb des nächsten Jahres klären.
Als nun der Entschluss schon gefasst war, haben wir uns den städtischen Zwinger mal angesehen. Paula, die Sprecherin der privaten Tierschutzinitiative und unsere Gastgeberin für die Zeit bis Chica wieder weiterreisen kann, nahm uns mit an diesen traurigen und von allen Göttern dieser Erde verlassenen Ort.

chica2Man kennt diese Bilder: provisorischer Betonboden, zugeschissen, mit teilweise blutigem Erbrochenem überzogen, begrenzt mit einem scharfkantigen Maschendraht der für immer wieder neue Wunde sorgt , vollkommen überbelegt und oft mit einem oder mehreren toten Tieren irgendwo in einer Ecke, in die sie sich im letzten Moment ihres traurigen Daseins gerade noch geschleppt haben. Und Niemand kümmert sich darum – niemand außer Paula und einer Hand voll Frauen, die täglich in ihrer Freizeit und mit ihrem privaten Geld versuchen, das unaufhaltsame Schicksal zu ändern. Niemand unterstützt sie.

El Calafate ist eine der reichsten Touristenstädte Argentiniens. Hier verbringt das Präsidenten-Ehepaar ihren Sommerurlaub. Hier muss jeder Tourist, egal ob spanischer König oder deutscher Rucksacktourist, der den Perito Moreno Gletscher sehen will, automatisch durch. Das Wirtschaftsleben blüht, die Straßen sind blumengeschmückt, Touristentafeln weisen auf jede Sehenswürdigkeit hin, unzählige städtische Angestellte, Straßenkehrer, Gärtner, Parkgebühreneintreiber und vor allem Stadtpolizisten sorgen innerhalb der Stadt für eine Atmosphäre als wäre man in Saint Tropez – alles nur vom Feinsten und so wichtig für unsere amerikanischen „Freunde“ – so safe! Und in dieser ach so schönen Idylle stören die vielen Straßenhunde irgendwie ungemein!

Immerhin, vor einem Jahr wurden sie noch von den städtischen (!) Hundefängern gejagt und dann durch Schläge betäubt oder, im besseren Fall, getötet um dann ins Feuer geworfen zu werden. Dann „baute“ die Stadt auf Druck der Frauen den sogenannten Zwinger und behauptete, sich um die Tiere zu kümmern. Seitdem kämpfen sie auf einem absolut deprimierenden und verlorenen Posten. Notwendiges Futter kommt von einigen Restaurants und deren Abfällen, notwendige Medikamente werden teilweise über Rodrigo, den Tierarzt „organisiert“, Reinigungsmittel zweigt ein Stadtangestellter ohne Wissen der Administration illegal aus Mitleid ab. Und das Werkzeug, Besen und Schaufeln kommen vom nebenan liegenden Müllberg. Aber die Stadt behauptet, sich um die Tiere zu kümmern, alles andere sei erfundener Unfug…

chica3Und wenn es das Letzte in unserem Leben gewesen wäre, spätestens an diesem Ort hätten wir Chica wieder in unser Auto gepackt!

Und wir werden Briefe an die Stadt schreiben, mit anderen Reisenden darüber sprechen, denn nur wenn Touristen sich über dieses „Tier-KZ“ beschweren, haben die fünf Frauen eine Chance, dass ihrer Bitte um wenigstens die notwendigsten Mittel für Futter, medizinische Versorgung und einen baulich abgesicherten Platz für die Tiere vielleicht irgendwann von diesen ignoranten, selbstgefälligen Stadtobersten gehört wird. An Geld fehlt es in dieser Stadt wirklich nicht!

Und auch wenn Keiner die Bilder wirklich sehen möchte, haben wir ein paar eingestellt, denn wir wollen nicht so tun, als gäbe es sie nicht:

Die „Totgeweihten von El Calafate“!
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